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21 Mai 2024

Notfallmedizin: To pee or not to pee – das ist hier die Frage! Prognoseabschätzung und Therapie nach einem „Schwanzabriss“ bei der Katze

Notfallmedizin: To pee or not to pee – das ist hier die Frage! Prognoseabschätzung und Therapie nach einem „Schwanzabriss“ bei der Katze
Inspiriert durch das vielversprechende Vortragsthema zur diesjährigen Deutschen Vet „The smashed Cat - Die zerschmetterte Katze: Was tun bei Beckenverletzungen von der Präsentation bis zur Operation“, habe ich mir in diesem Beitrag überlegt, welches neurologische Thema in diese Kerbe schlagen könnte und was den Praktiker eventuell vor eine Hürde stellt. So kam ich recht schnell zum Schwanzabriss der Katze, da dieser ebenfalls traumatischer Natur (vor allem Autounfall induziert) ist und die Prognoseabschätzung sich nicht immer ganz einfach darstellt.

 

 

Wann sprechen wir vom „Schwanzabriss“?

Der umgangssprachliche „Schwanzabriss“, welcher durch einen traumatischen Zug am Schwanz der Katze (zum Beispiel durch das Hängenbleiben) entsteht, hat in Abhängigkeit von der genauen Lokalisation und des Ausmaßes der Verletzung viele Bezeichnungen: sakrokaudale Luxation, sakrokaudale Luxationsfraktur, sakrokokzygeale und interkokzygeale Wirbel(luxations)fraktur. In der Regel tritt der „Schwanzabriss“ am Übergang Sakrum zum ersten Schwanzwirbel oder im Bereich zweitem zum dritten Sakrumssegment auf. Es kann allerdings auch die Schwanzwirbelsäule hochproximal betroffen sein. In letzterem Fall sind oft weniger schwerwiegende neurologische Ausfälle zu erwarten.

Beim Schwanzabriss kommt es durch Zug an den Nervenfasern des Sakralmarks und der Cauda equina, aus denen neben den Schwanznerven auch der Nervus pudendus und der Nervus pelvinus hervorgehen, zu permanenten oder temporären neurologischen Defiziten. Der Nervus pudendus und der Nervus pelvinus spielen sowohl für den Harnabsatz, als auch den Kotabsatz eine große Rolle.

 

Welche klinischen Symptome sprechen für einen „Schwanzabriss“?

In den meisten Fällen sind äußerlich keine Wunden sichtbar. Je nach Lokalisation und Schwere der Verletzung kommt es zur partiellen Lähmung (Parese) des Schwanzes bis hin zur vollständigen Lähmung (Plegie). Der Schwanz hängt bei der betroffenen Katze also schlaff herab. Bei einer vollständigen Lähmung wird dann noch unterschieden, ob der Schwanz noch Tiefenschmerzempfinden zeigt oder nicht.

Je nachdem wie stark der Zug an den Nervenfasern war, kann es auch zu Lähmungserscheinungen in den Hintergliedmaßen kommen. Diese reichen von Ataxie und milden Priopriozeptionsdefiziten bis zu gerade noch gehfähigen Paraparesen der Hinterhand oder auch deutlich plantigrader Fußung in den Hintergliedmaßen.

Der entscheidende Knackpunkt bei den meisten Schwanzabrisskatzen ist allerdings der Harn- und Kotabsatz, der in Folge des Zuges an den Nervenfasern oft deutlich gestört bis ausgefallen ist.

Zudem zeigen die Katzen eine deutliche Schmerzhaftigkeit und teils auch Schwellungen im Bereich des Sakrums und des Schwanzansatzes.

 

 

 

Wie diagnostiziere ich den Schwanzabriss richtig?

    1. Klinische Untersuchung:

Eine eingehende allgemeine Untersuchung ist bei jedem Traumapatient verpflichtend. Anschließend sollte die Katze auf Zusammenhangstrennungen der Haut untersucht werden.

Eine deutliche Dolenz im Bereich des Sakrums/ Schwanzansatzes, sowie eine Schwellung des Bereiches ist oft ersichtlich. Teilweise können Dislokationen ertastet werden. Der Schwanz hängt in der Regel schlaff herunter.

 

    2. Röntgenuntersuchung:

Da diese Katzen ein massives Trauma erlitten haben, sollten sowohl Röntgenbilder von Thorax und Abdomen in zwei Ebenen zum Ausschluss weiterer Verletzungen, als auch Röntgenbilder des Bereichs Lendenwirbelsäule/ Beckenring/ Sakrum/ Schwanzansatz angefertigt werden.

 

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Abbildung: „Schwanzabriss“ der Katze – Laterolaterales Röntgen von LWS/ Beckenring/ Sakrum/ Schwanzwirbelsäule: Wirbelluxationsfraktur zwischen dem 1. und 2. Schwanzwirbel mit deutlichem Versatz. Die Harnblase ist gut abgrenzbar und von moderatem Füllungszustand.

Abhängig vom klinischen Bild ist die Prognose dieser Katze mit einem hochproximalen Schwanzwirbelsäulenabriss eher als günstiger einzustufen als Luxationsfrakturen im Bereich des Sakrums oder am Übergang Sakrum/ 1. Schwanzwirbel. Oft ist auch eine deutliche Lücke zwischen den betroffenen Wirbeln zu sehen, was in Anbetracht der Genese der neurologischen Ausfälle (durch Zug auf die Nervenfasern entstehend) als schwerwiegender eingestuft werden sollte. Nichtsdestotrotz ist für die Prognose vor allem das klinische Bild entscheidend, da die Traktion auch nur kurzfristig stattgefunden haben könnte. Die hier abgebildete Katze erholte sich sehr gut und schnell von ihrem Trauma. (Bildquelle: Tierarztpraxis Kolonadenviertel Leipzig)

 

    3. Tiefenschmerz des Schwanzes richtig testen:

Der Tiefenschmerz des Schwanzes kann sowohl an der Schwanzspitze, als auch an der Schwanzbasis überprüft werden. Sollte er an der Schwanzspitze ausgefallen sein, sollte unbedingt einer Überprüfung im Bereich des Schwanzansatzes erfolgen. Hierfür wird mit einer Klemme der Schwanz fest eingeklemmt bis ein deutlicher Reiz auf dem Periost der Schwanzwirbel entsteht. Die Reaktion der Katze sollte umdrehen und zum Schwanz sehen/ miauen/ aufschreien/ fauchen oder eine andere deutliche Abwehrreaktion sein, dann ist der Tiefenschmerz erhalten.

 

    4. Perinealreflex testen:

Zuerst sollte der Analtonus in Ruhe beurteilt werden. Einige Katzen können einen verminderten Analschluss aufweisen. Anschließend wird mit einer Klemme die Haut des Anus und des benachbarten Damms berührt, was zum reflektorischen Zusammenziehen des äußeren Afterschließmuskels führt. Das Vorhandensein dieses Reflexes hat genau wie das Vorhandensein des Tiefenschmerzes im Schwanz eine starke prognostische Bedeutung.

 

    5. Überprüfung des Harnblase:

Die Harnblase wird durch Palpation überprüft. Sollte die Harnblase nicht sicher palpierbar und auch im Röntgenbild des Bauchraumes nicht sicher abgrenzbar sein, sollte eine Sonografie des Abdomens angefertigt werden, da bei unbekanntem Trauma natürlich auch eine Blasenruptur vorliegen könnte.

Ist die Blase palpatorisch auffindbar, werden Größe und Wandspannung beurteilt. Sollte die Katze aktiv und selbstständig in einer adäquaten Menge Harn absetzen (zum Beispiel im Katzenklo oder auf einer Decke) und die Blase ist anschließend klein, so liegt keine Harnabsatzstörung vor. Sind wiederholt kleinen Mengen Harn auf der Decke zu finden, aber die Blase ist weiterhin groß und vielleicht auch von eher schlaffer Kontur, so liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Überlaufblase vor. Bei Druck auf die Blase entleert diese sich auch sehr leicht. Die Wandspannung ist aber sehr niedrig und die Blase fühlt sich sackartig an, was auch zur Folge hat, das viel Resturin bei der manuellen Entleerung zurückleibt und die Gefahr einer aufsteigenden Blaseninfektion erhöht ist.

Es kann allerdings auch der Fall eintreten, dass die Katze gar kein Harn absetzen kann, da sich der Harnblasensphinkter nicht öffnet. Auch in diesem Fall ist die Blase groß und initial oft auch prall, was sich nach Überdehnung aber auch ändern kann und dann eher wieder eine schlaffe Wandspannung entstehen kann. Teilweise können diese Katzen trotzdem manuell durch Druck auf die Blase entleert werden. In einigen Fällen ist der Spinkterschluss aber so stark, dass nur ein Blasenverweilkatheter zum Erfolg führt. Einige Katzen entwickeln eine Reflexdysenergie (gleichzeitige Kontraktion des Detrusors und spastisch kontrahierter äußerer Spinktermuskel).

 

    6. Neurologische Untersuchung der Hintergliedmaßen:

Nach Möglichkeit sollte die Katze einige Meter im Raum freilaufen können, damit der Gang gut beurteilt werden kann. Hier können auch weitere orthopädische Probleme oder Lahmheiten der Gliedmaßen nach dem meist unbekanntem Trauma identifiziert werden.

Durch den Schwanzabriss ausgelöst, können partielle Lähmungen der Hintergliedmaßen mit Ataxie, Überköten oder plantigrader Fußung auftreten. Dies ist dann der Fall, wenn durch den Zug am Sakralmark eine (in der Regel temporäre) Schädigung des Nervus ischiadicus ausgelöst wurde. Die Propriozeption der Hintergliedmaßen, die vermindert ausfallen kann, sollte durch die Hüpfreaktion oder Korrekturreaktion überprüft werden. Der Patellarsehenenreflex ist beidseits normal, es kann aber ein verminderter/ reduzierter Flexorreflex der Hintergliedmaßen aufgrund der Ischiadicusschwäche auftreten.

 

 

 

Wie ist die Therapie?

Die initiale Therapie setzt sich aus Analgesie und Ruhighaltung zusammen. Zur Analgesie können NSAIDs (z.B. Meloxicam oder Robenacoxib) in Kombination mit einem Nervenschmerzmittel wie Pregabalin oder Gabapentin genutzt werden. In der initialen Phasen sind oft auch Opioide (L-Methadon oder Burprenorphin) indiziert.

Zudem muss der Urinabsatz gewährleistet sein und die Blase vor weiterer Überdehnung geschützt werden. Sollte sich die Harnblase manuell nicht mehrfach (mindestens 2 bis 3-mal täglich) entleeren lassen („ausdrücken“), muss ein Blasenverweilkatheter gelegt werden. Zur Erleichterung des Harnabsatzes können Alfuzosin oder Phenoxybenzamin genutzt werden. In einigen Fällen kann auch Diazepam oral bei der Relaxation des äußeren Harnblasensphinkters helfen. Bei atonischen, schlaffen Blasen wird die Gabe von Bethanechol zur Erhöhung der Harnblasenwandspannung empfohlen.

Bei Katzen die Kotabsatzprobleme zeigen, können neben rektalen Klistiergaben und oralen Laktulosegaben auch unterstützend diätetische Maßnahmen (leicht-verdauliche Kost) ergriffen werden.

Eine chirurgische Versorgung des Schwanzes kommt bei Katzen mit offenen Verletzungen und bei Katzen mit anhaltender Hyperästhesie und Dolenz im Bereich Sakrum/ Schwanz in Frage. Einige Katzen zeigen in der Rekonvaleszenz auch Automutilation (vermutlich in Folge von Parästhesien) im Schwanzbereich, weswegen dieser teils abgenommen werden muss. Neben der Schwanzamputation stehen einige Techniken zur internen Schwanzfixierung zur Verfügung.  Chirurgisch stabilisierte Katzen erlangten laut einer Studie öfter ihre Schwanzmotorik zurück als konservativ therapierte Tiere. Allerdings hatte die chirurgische Versorgung keinen Einfluss auf die Harnabsatzstörung. 

 

Wie ist die Prognose?

Die Prognose ist zu Beginn oft nicht so leicht abschätzbar, da initial nicht gesagt werden kann, ob das Trauma permanente oder nur temporäre Schäden verursacht hat.

In der Regel ist die Prognose bezüglich der Defizite der Hintergliedmaßen gut, sofern keine zusätzlichen Läsionen im Bereich der Wirbelsäule oder des Beckenrings vorliegen.

Sofern die Katzen noch Tiefenschmerzempfinden im Schwanz zeigen, ist die Prognose für das Wiedererlangen der Schwanzmotorik mit etwa 90 % günstig.  Bei negativem Tiefenschmerzempfinden ist die Prognose für die Schwanzmotorik zwar nicht infaust, aber deutlich geringer und laut Studien sehr variabel.

Der generelle Knackpunkt bezüglich der Prognose ist allerdings der Harnabsatz. Ist der Tiefenschmerz an der Schwanzbasis erhalten und der Perinealreflex/ die perianale Sensibilität intakt, ist die Prognose für das Wiedererlangen der selbstständigen Urinabsatzfunktion gut. Ist der Tiefenschmerz nicht intakt erlangen nur etwa 60 % der Katzen die vollständige Kontrolle über ihre Blase zurück und dies meist innerhalb von 2 Wochen nach dem Trauma. Ist der selbstständige Harnabsatz innerhalb der ersten 4 Wochen nach Trauma nicht wieder eingetreten, ist die Prognose für die Katze eher als schlecht einzustufen.

 

 

 

Zum Weiterlesen:

[1] Eminaga S, Palus V, Cherubini GB. Acute spinal cord injury in the cat: causes, treatment and prognosis. J Feline Med Surg. 2011 Nov;13(11):850-62. doi: 10.1016/j.jfms.2011.09.006.

[2] Tatton B, Jeffery N, Holmes M. Predicting recovery of urination control in cats after sacrocaudal injury: a prospective study. J Small Anim Pract. 2009 Nov;50(11):593-6. doi: 10.1111/j.1748-5827.2009.00770.x.

[3] Couper E, De Decker S. Evaluation of prognostic factors for return of urinary and defecatory function in cats with sacrocaudal luxation. J Feline Med Surg. 2020 Oct;22(10):928-934. doi: 10.1177/1098612X19895053.

[4] Davies E and Walmsley G. Management of tail pull injuries in cats. In Practice 2012; 34: 27–33.

[5] Garcia M, Dumartinet C, Bernard F, Bernardé A. Outcomes of nine cats with urinary retention after sacrocaudal luxation managed with long-term urinary diversion. Vet Surg. 2021 Nov;50(8):1681-1687. doi: 10.1111/vsu.13695.

[6] Caraty J, Hassoun R, Meheust P. Primary stabilisation for tail avulsion in 15 cats. J Small Anim Pract. 2018 Jan;59(1):22-26. doi: 10.1111/jsap.12773.

 

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