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23 Okt 2023

Notfallmedizin: Management von Intoxikationen bei Hund und Katze – Teil 1 Allgemeines Vorgehen beim Verdacht auf Intoxikation

Notfallmedizin: Management von Intoxikationen bei Hund und Katze – Teil 1 Allgemeines Vorgehen beim Verdacht auf Intoxikation
Intoxikationen sind einer der häufigsten Vorstellungsgründe in der tiermedizinischen Notfallpraxis. Es gibt unzählige Substanzen, die für unsere Kleintiere toxisch sind. Dabei sind unterschiedliche Organsysteme involviert und die Symptome reichen von reduziertem Allgemeinverhalten, unspezifischen neurologischen Symptomen, über Bewusstlosigkeit bis hin zu Koma und Tod. Einige Substanzen schaden den Nieren, andere der Leber, wieder andere lösen gastrointestinale Symptome aus oder führen zu zentralnervösen Ausfällen. Auch kann es zu Blutungsneigungen, hämolytischen Anämien oder gar zu Störungen der Atmung bzw. des Gasaustauschs kommen.

 

Anamnese

Da die Symptome von der aufgenommen Substanz abhängig sind, ist es umso wichtiger, dass der Besitzer, sofern er die Aufnahme einer potentiell toxischen Substanz beobachtet hat, zeitnah beim Tierarzt vorstellig wird und im besten Falle die Verpackung und die Substanz mitbringt. Wenn die toxische Substanz bekannt ist, kann gezielter therapiert werden und unter Umständen sogar ein spezifisches Antidot verabreicht werden. Bei beobachteter Giftstoffaufnahme gibt es einige Fragen, die während der verkürzten Anamnese durch den behandelnden Tierarzt gestellt werden sollten: Was wurde aufgenommen? Wie viel? Wann? Wie oft? In den überwiegenden Fällen ist die Toxinaufnahme allerdings nicht eindeutig beobachtet worden, weswegen man sich bei entsprechendem Verdacht über folgende Frage näher herantasten kann: Gab es Zugang zu Tabletten? Zugang zum Biomüll, Kompost oder Misthaufen? Wurden Mäuseköder, Ratten- oder Schneckengift auf dem eigenen Grundstück oder beim Nachbarn platziert? Wurden in der Nähe Pflanzenspritzmittel genutzt? Neigt das Tier zur Fremdkörperaufnahme? Wurden auf der Gassirunde unbekannte Substanzen aufgenommen oder war das Tier kurzzeitig entlaufen?

 

Ersteinschätzung und Stabilisierung

Das allgemeine Vorgehen des Tierarztes ist vorerst unabhängig von der Art der aufgenommenen Substanz sehr ähnlich und folgt dem ABCD-Schema (A – Airway/ Atemwege, B – Breathing/ Atmung, C – Circulation/ Kreislauf, D – Disability/ neurologische Defizite).  Es erfolgt demnach zuerst ein Check der Atemwege. Bei Schwellungen oder Schleimhautläsionen im Bereich der oberen Atemwege kann eine Intubation oder sogar Tracheotomie notwendig werden. Anschließend sollte die Atmung gesichert werden. Bei notwendiger Intubation kann über die Kapnographie die Ventilation überprüft werden, bei Hypoventilation muss gegebenenfalls manuell oder maschinell beatmet werden. Im Zweifel kann die Oxygenierung mittels Pulsoxymetrie überprüft werden. Anschließend sollte ein Check der Vitalparameter (Herzfrequenz, Pulsfrequenz und -qualität, Schleimhautfarbe, kapilläre Rückfüllungszeit, Atemfrequenz und –tiefe, interne Körpertemperatur) erfolgen und somit der Kreislaufzustand des Patienten erfasst werden. Daran angepasst erhält der Patient eine Infusion zur Stabilisierung. Zudem wird mit einer zeitnahen Infusionstherapie die Ausscheidung der Substanzen gefördert. Bei einer bestehenden Hyperthermie sollte der Patient mit nassen Tüchern und Ventilatoren gekühlt werden. Hierbei muss darauf geachtet werden, dass die Nässe durch das Fell bis auf die Haut dringt. Ab einer Temperatur von etwa 39°C sollte die Kühlung gestoppt werden, da die Tiere noch nachkühlen und dabei auch unterkühlen können. Bei einer Hypothermie muss der Patient mit Rotlicht oder Wärmedecken bzw. –matten gewärmt werden. Daran anschließend wird der neurologische Status des Patienten eingeschätzt. Bei Patienten mit schweren tonisch-klonischen Krämpfen oder gar im Status epilepticus sollte selbstredend eine Unterbrechung der Anfallsaktivität mit Antikonvulsiva wie Diazepam, Phenobarbital oder Levetiracetam an erster Stelle der Therapie stehen.

 

Dekontamination und Antidottherapie

Nach der initialen Stabilisierung erfolgt eine Dekontamination, die von der Art der Substanz abhängig ist. Bei der Aufnahme der toxischen Substanzen über die Haut muss das Fell geschoren und das Tier anschließend gründlich mit Seife gewaschen werden. Nach einer oralen Toxinaufnahme sollte entweder eine forcierte Emese oder eine Magenspülung durchgeführt werden. Folgende Kontraindikationen für eine forcierte Emese müssen dabei beachtet werden: ein reduziertes Bewusstsein, sowie schwere neurologische Störungen (Gefahr der Aspiration erhöht), weiterhin die Aufnahme ätzender Substanzen, wie Säuren oder Laugen, oder scharfkantiger Stoffe, wie beispielsweise Nägel oder Rasierklingen. Bei einer Magenspülung sollte eine Risiko-Nutzen-Abwägung erfolgen. Diese ist abhängig von der aufgenommen Substanz, deren Toxizität und Menge, sowie dem zeitlichen Abstand zwischen Aufnahme der Giftsubstanz und der Vorstellung beim Tierarzt. So ist es absolut sinnvoll und in den Augen der Autorin zwingend notwendig nach der Aufnahme von Metaldehyd eine Magenspülung durchzuführen. Bei einer länger zurückliegenden Aufnahme von Biomüll und dem Verdacht auf eine Mykotoxikose mit eher moderaten Symptome erscheint das Risiko der Allgemeinanästhesie für eine Magenspülung allerdings unverhältnismäßig zu sein. Zudem besteht die potentielle Gefahr einer Aspiration, weswegen alle Magenspülungen nur bei intubierten Patienten erfolgen sollten, der Rachenraum des Patienten nach der Spülung nochmals abgesaugt und der Tubus sicherheitshalber partiell geblockt gezogen werden sollte.

Zur Reduktion der Toxinaufnahme wird nachfolgend die Eingabe von Aktivkohle empfohlen. Diese ist als Tabletten, Paste oder als Lösung erhältlich und kann bei einer Magenspülung direkt über die Sonde verabreicht oder bei stabilem Zustand des Patienten oral eingegeben werden. Eine Aspiration von Aktivkohle sollte unbedingt vermieden werden. Es gibt nur wenige Substanzen, die nicht an Aktivkohle binden. Dazu gehören: Säuren, Laugen, Alkohole, Nitrit und Cyanide. Bei speziellen Intoxikationen, für die ein Antidot verfügbar ist, sollte dies entsprechend verabreicht werden. Eine Reihe von speziellen Intoxikationen, deren klassische Symptome und Besonderheiten der Therapie, sowie die spezielle Antidottherapie werden im zweiten Teil der Intoxikationsreihe besprochen.

 

Lipidinfusion

Eine weitere sehr vielfältig einsetzbare Möglichkeit zur Steigerung der Toxinelimination ist die Verwendung von Lipidinfusion. Die Lipidinfusion (20%ige Lipidlösung) kann prinzipiell bei allen potentiell lipidlöslichen Substanzen nützlich sein. Eine Wirksamkeit der adjuvanten Lipidinfusion wurde bei Katzen mit Permethrin-Intoxikation in einer prospektiven, randomisierten Studie von Peacock et al. (2015) nachgewiesen. Weiterhin gibt es zahlreiche Einzelfallberichte über den Einsatz von Lipidinfusion zur zusätzlichen symptomatischen Therapie bei diversen Intoxikationen. So kann sie zum Beispiel nach Ivermectin-Intoxikation bei Hunden mit einem MDR1-Gendefekt oder auch nach Aufnahme von diversen humanmedizinischen Tabletten (Herzmedikamente, Ibuprofen, Antidepressiva, Muskelrelaxantien) nützlich sein. In der Humanmedizin wird die Lipidinfusion vor allem nach Überdosierung von Lokalanästhika verwendet, was ebenfalls ein Einsatzgebiet in der Tiermedizin ist. Außerdem kann der Einsatz einer Lipidinfusion bei Mykotoxikosen, also der Vergiftung mit den von Schimmelpilzen produzierten Mykotoxinen nach Aufnahme verdorbener Lebensmittel, vermutlich zu einer Reduktion der Symptome führen.

Zur Wirkung der Lipidinfusion gibt es einige Theorien: Die „Lipid-sink-Theorie“ besagt, dass durch die Schaffung einer intravenösen Lipidphase im Plasma die lipidlöslichen Medikamente bzw. Toxine dorthin gezogen werden und somit weg von Herz, Gehirn und Muskulatur und hin zu den Ausscheidungsorganen Niere und Leber („Lipid-Shuttle-Theorie“). Daher ist die Lipidinfusion umso wirksamer je lipophiler ein Stoff ist. Die Lipophilie eines Stoffes kann über den sogenannten Log P-Wert der Substanz angegeben werden. Dieser wird aus dem Octanol-Wasser-Verteilungskoeffizienten (P-Wert) bestimmt. Mit einem Log P-Wert über 1 ist der Stoff lipophil. Je höher der Wert ist, desto lipophiler die Substanz. So hat zum Beispiel Permethrin einen Log P-Wert von 6,2, Ivermectin von mindestens 4,1 und Ibuprofen von 3,5. Zusätzlich scheint die Lipidinfusion durch einen erhöhten intrazellulären Calciumeinstrom in die kardialen Myozyten direkt ionotrop zu wirken und die Kontraktionskraft des Herzmuskels zu steigern. Die freien Fettsäuren der Lipidinfusion wiederrum stehen den myokardialen Mitochondrien zur ATP-Produktion bereit und verbessern somit die Stoffwechsellage.  

In der Tiermedizin gibt es insgesamt nur wenige Berichte über Nebenwirkungen, welche denen, die aus der Humanmedizin berichtet wurden, gleichen. So zeigten sich in der retrospektiven Studie von Markert et al. (2023) bei insgesamt 313 Hunden und 100 Katzen mit Intoxikationen in nur 6 % der Tiere Nebenwirkungen nach intravenöser Lipidinfusion. Auch, wenn Nebenwirkungen nur selten auftreten, wurden folgende Risiken bereits beschrieben: kardiovaskuläre Komplikationen (Bradykardie, Asystolie, Herz-Kreislauf-Stillstand, pulmonale Mikroembolie), Atemstörungen (Acute Respiratory Distress Syndrom, Hypoxie, pulmonale Hypertension, Dyspnoe), hämatologische Veränderungen (intravasale Hämolyse, Anämie, Thrombozytopenie, disseminierte intravasale Koagulopathie, Neutropenie, Lymphopenie, Hypertriglyceridämie), neurologische Störungen (reduziertes Bewusstsein, semikomatöser Zustand),   „Fettüberladungssyndrom“ (Hepato- und Splenomegalie, hepatische Dysfunktion, Pankreatitis, Gerinnungsstörungen, Fieber, Blutbildveränderungen), reversible korneale Lipidose (Katze), Thrombophlebitis, gastrointestinale Symptome und anaphylaktische Reaktionen. Um das Risiko für anaphylaktische Reaktionen gering zu halten, sollte eine kleinere Menge als Probebolus über 5 bis 10 Minuten gegeben und das Tier beobachtet werden. Wenn dies gut vertragen wird, kann anschließend die restliche Dosis als Dauertropfinfusion verabreicht werden. Die Gefahr der Sepsis besteht bei unhygienischer Anwendung, da die Lipidinfusion einen hervorragenden Nährboden für Bakterien bietet.

Aufgrund der potentiellen Risiken sollte im Einzelfall die Indikation entsprechend geprüft und eine Risiko-Nutzen-Abwägung erfolgen. Im Zweifel sollte bei entsprechender Indikation nach Meinung der Autorin allerdings lieber eine vorsichtige Lipidinfusion erfolgen. Beachtet werden muss allerdings, dass viele der oft im Zusammenhang mit Intoxikationen eingesetzten Medikamente wie Diazepam, Phenobarbital oder Propofol ebenfalls lipophil sind und deren Wirkung somit unter Umständen aufgehoben wird.  

 

Weiterführende symptomatische Therapie

Durch basale Blutuntersuchungen kann der Tierarzt sich ein besseres Bild über die Auswirkungen des Toxins und die Schäden, die das Gift bereits verursacht hat, machen. Ein Blutbild bzw. Hämatokritwert, sowie eine blutchemische Untersuchung, die mindestens die Nieren- und Leberwerte, Gesamteiweiß, Albumin, Glukose sowie die Elektrolyte umfasst, erscheinen sinnvoll. Auch ein Gerinnungsstatus sollte bei entsprechendem Verdacht auf Blutungen erhoben werden. Bei schweren Intoxikationen kann auch eine Blutgasanalyse von Nutzen sein. Je nach Befunden und Symptomen muss weiterführend symptomatisch therapiert werden. So kann eine Blut- bzw. Plasmatransfusion bei Anämien oder Blutungsneigungen notwendig werden. Bei gastrointestinalen Symptomen werden Gastroprotektiva und Antiemese verabreicht. Zur Linderung von Tremorsymptomatik können Muskelrelaxantien wie Methocarbamol oder Diazepam eingesetzt werden. In der nachfolgenden Tabelle werden einige hilfreiche Medikamente mit entsprechenden Dosierungsempfehlungen zusammengefasst:

 

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Tipp:
Bei Unsicherheiten bezüglich der Toxizität einer Substanz, typischen Symptomen bei Toxinaufnahme, sowie dem Einsatz von gegebenenfalls vorhandenen Antidots kann die Schweizer Toxikologieseite von Clinipharm/ Clinitox:  www.clinitox.ch = https://www.vetpharm.uzh.ch/perldocs/toxsyqry.htm hilfreich sein.

 

 

 

Zum Weiterlesen

  • Hassdenteufel E, Lehmann H, Schneider M, Moritz A. Notfalltherapie bei Vergiftungen von Hund und Katze [Emergency management of intoxications in the dog and cat]. Tierarztl Prax Ausg K Kleintiere Heimtiere. 2016 Dec 5;44(6):438-449. German. doi: 10.15654/TPK-160889.
  • Walther S, Dörfelt R. Intravenöse Lipidinfusion bei Katzen als Therapieoption bei Intoxikationen. Kleintierpraxis. 2022 67, 392-402 doi: 10.2377/0023-2076-67-392
  • Markert C, Heilmann RM, Kiwitz D and Doerfelt R. Intravenous lipid emulsion for the treatment of poisonings in 313 dogs and 100 cats (2016–2020). Front. Vet. Sci. 2023 10:1272705. doi: 10.3389/fvets.2023.1272705
  • Becker MD, Young BC. Treatment of severe lipophilic intoxications with intravenous lipid emulsion: a case series (2011-2014). Vet Med (Auckl). 2017 Oct 30;8:77-85. doi: 10.2147/VMRR.S129576.
  • Gwaltney-Brant S, Meadows I. Intravenous Lipid Emulsions in Veterinary Clinical Toxicology. Vet Clin North Am Small Anim Pract. 2018 Nov;48(6):933-942. doi: 10.1016/j.cvsm.2018.07.006. Robben JH, Dijkman MA. Lipid Therapy for Intoxications. Vet Clin North Am Small Anim Pract. 2017 Mar;47(2):435-450. doi: 10.1016/j.cvsm.2016.10.018
  • Peacock RE, Hosgood G, Swindells KL, Smart L. A randomized, controlled clinical trial of intravenous lipid emulsion as an adjunctive treatment for permethrin toxicosis in cats. J Vet Emerg Crit Care (San Antonio). 2015 Sep-Oct;25(5):597-605.
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