Notfallmedizin: Das Leben auf der Kippe - Kippfenstersyndrom der Katze
Zum einen fliegen in dieser Zeit wieder die sogenannten „Fenstersturzkatzen“ - Katzen, die laut Besitzeraussagen natürlich schon IMMER ganz brav im Fensterbrett saßen und noch NIE Anstalten gemacht haben einem vorbeifliegendem Schmetterling oder ähnlichem zu folgen und sich plötzlich aus dem Fenster stürzen und sich dabei schwerwiegende Verletzungen zu ziehen. Häufige Verletzungen durch so einen Fenstersturz sind: Pneumothorax, Lungenkontusionen und –blutungen, Frakturen des Beckens, der Gliedmaßen oder Wirbelsäule, Gaumenspalte, Unterkiefer- und Zahnfrakturen, sowie Verletzungen des Gesichtsschädels bzw. der Weichteile, Blasenruptur und weitere Verletzungen an inneren Organen.
Zum anderen birgt aber auch das nicht vollständig geöffnete, sondern „auf Kipp“ gestellte Fenster große Gefahren. Die Katzen versuchen durch dieses zu klettern oder zu springen, rutschen dann aber im V-förmigen Spalt nach unten und bleiben stecken. Welche Folgen dies für die Katze hat und wie die bestmöglichste Therapie dieser Katzen aussieht, wird ausführlich in diesem Beitrag besprochen.
Nur eins noch vorweg: Nun sollte man denken, dass durch Aufklärungsarbeit heut zu Tage jeder verantwortungsvolle Katzenbesitzer über diese beiden potentiellen Gefahren für seinen Wohnungstiger informiert sei und dies auch berücksichtige, leider ist es in der Realität weiterhin nicht der Fall. Viele sind sich dieser Gefahren nicht bewusst, andere ignorieren sie ganz bewusst. Und daher ist es umso trauriger, dass es auch in diesem Jahr wieder ab Beginn der warmen Jahreszeit einen regelrechten „Run“ auf die Notdienstpraxen und –kliniken gab und weiter gibt, bei denen Katzen, die beim abendlichen Lüften aus dem Fenster gefallen sind oder im Kippfenster über Nacht festhingen, von vollkommen aufgelösten BesitzerInnen abgegeben werden. Verletzungen und Leid, das hätte vermieden werden können, da heutzutage moderne Schutzgittervorrichtungen für Kippfenster, sowie Balkon und Fensterschutznetze zur Verfügung stehen!
Abbildung 1: Es sieht so harmlos aus, doch jeder Katzenbesitzer sollte sich davor hüten, das Fenster „auf Kipp“ zu stellen. Die Katzen bleiben, beim Versuch ins Freie zu gelangen, zwischen der letzten Rippe und dem Becken stecken. Die Befreiungsversuche aus eigenen Kräften führen nur dazu, dass die Katzen noch tiefer im V-förmigen Fensterspalt rutschen. Das sogenannte „Kippfenstersyndrom“ ist Folge des Kompressionstraumas.
Doch was geschieht beim „Kippfenstersyndrom“ der Katze?
Beim Versuch durch das angekippte Fenster nach draußen zu gelangen, bleiben die Katzen im Bereich zwischen der letzten Rippe und dem Becken im keilförmigen Fensterspalt hängen und werden darin eingequetscht. Es kommt zu einem Kompressionstrauma, in dessen Folge eine ischämische Neuromyopathie entsteht. Die Minderperfusion der hinteren Körperhälfte wird durch Druck auf die Aorta abdominalis und Vena cava caudalis und damit Einengung selbiger verursacht. Sowohl die Muskulatur des hinteren Körperbereichs, als auch die Nerven und das Rückenmark, in Abhängigkeit von der Höhe der Quetschung, werden nicht mehr ausreichend versorgt. Die Muskulatur wechselt in einen anaeroben Stoffwechsel mit Laktatbildung. Die Muskeln werden hart und schwellen an, es kommt zu einer nachfolgenden ischämischen Muskelnekrose. Zusätzlich kann es auch zu Quetschungen und Ischämien an den inneren Organen des kaudalen Abdomens kommen. Besonders oft betroffen sind die Blase, die Nieren und der Darm.
Leider ist allerdings mit der Befreiung der Katze und damit Wiederherstellung des Blutflusses die Gefahr nicht gebannt. Im Gegenteil: Es kommt nun nachfolgend zu einem sogenannten Reperfusionssyndrom, bei dem sowohl das durch den anaeroben Stoffwechsel gebildete Laktat, als auch weitere toxische Metaboliten wie CO2, freie Sauerstoffradikale und Entzündungsmediatoren in die Blutbahn gelangen und in der Folge zu systemischen Schäden und Multiorganversagen führen können. Es kommt zu einer Azidose, Azotämie, Myoglobinurie, teils zu Oligourie und Hyperkalämie. Besonders anfällig für Schäden aufgrund des Reperfusionssyndroms sind daher die Nieren, weswegen in der Humanmedizin oft von einem „myonephropathischen-metabolischen Syndrom“ gesprochen wird.
Aufgrund der ischämische Muskelnekrose und gegebenenfalls Schäden am Urogenitaltrakt (Harnwegsruptur oder akutes Nierenversagen) gelangt sehr viel Kalium in die Blutbahn, welche zu tödlichen Herzrhythmusstörungen, Bradykardie und Herzstillstand führen können.
Welche Symptome zeigen Kippfensterkatzen?
Je nach Schwere der Erkrankung, was in der Regel mit der Länge der Einklemmung einhergeht, können folgende Symptome auftreten:
- Nachhandlähmung in unterschiedlicher Ausprägung (gehfähige Paraparese bis komplette Paraplegie mit ausgefallener Tiefenschmerzwahrnehmung, teilweise Lateralisierung (ein Bein etwas besser als das andere) möglich, wenn schief eingeklemmt war und der Blutfluss unterschiedlich stark vermindert war)
- Verminderte bis komplett aufgefallene segmentale Reflexe der Hintergliedmaßen (Patellarsehnenreflex, Tibialis-cranials-Reflex, Ischiadicus-Reflex, Flexorreflex der Hintergliedmaße) vermutlich als Folge der Kombination einer Schädigung des L4-S3 Rückenmarkssegements und einer direkten ischämischen Neuropathie der peripheren Nerven der Hintergliedmaßen
- Verminderter bis fehlender Femoralispuls beider Hintergliedmaßen
- Kalte Hintergliedmaßen, Zyanose der Ballen
- Schmerzhafte Schwellung der Muskulatur der hinteren Körperhälfte
- Hypothermie/ verminderte rektale Körpertemperatur
- Teilweise blutiger Urin- und/ oder Kotabsatz
- Acute respiratory distress syndrome (vermutlich durch freie Sauerstoffradikale und andere toxische Substanzen im Zusammenhang mit dem Reperfusionssyndrom)
Oft befinden sich die Katzen beim Eintreffen in der Praxis oder Klinik in einer akuten Schocksymptomatik (Tachykardie, Tachypnoe, blasse Schleimhäute und verlängerte KFZ, Seitenlage).
Abbildung 2: 5-jähriger EKH-Kater mit Kippfenstersyndrom nach etwa 12 Stunden Stabilisierung mit isotoner Natriumchloridlösung und unter adäquater Analgesie (Buprenorphin). Der Kater zeigte bei Einstellung eine nicht-gehfähige Paraparese der Hintergliedmaßen, wobei eine deutliche Seitenbetonung erkennbar war. Die rechte Hintergliedmaße war deutlich schwerwiegender betroffen als links. Nach Stabilisierung über etwa 12 Stunden zeigte sich bereits eine deutliche Besserung der Symptomatik und der Kater war auf drei Beinen wieder gehfähig. Die stärker betroffene rechte Hintergliedmaße zeigte eine moderate Motorik, konnte aber noch nicht wieder unter den Körper gezogen werden wie die linke Hintergliedmaße (Abbildung). Die Prognose konnte in diesem Fall als günstig gestellt werden, da bereits nach relativ kurzer Zeit eine deutliche Besserung der Symptome sichtbar war und sich die Blutwerte rasch stabilisierten.
Gibt es Differentialdiagnosen?
In der Regel ist die Diagnose des „Kippfenstersyndroms“ insofern einfach, da das Hängenbleiben im „auf Kipp gestelltem Fenster“ durch die Besitzer oder Überbringer (nach Rettung der Katze) im Vorbericht erzählt wird.
Sollte jedoch eine Katze mit oben genannten Symptomen (Ischämie der kaudalen Körperhälfte und Lähmungserscheinungen der Hintergliedmaßen) vorstellig werden und kein Vorbericht vorhanden sein, sollten je nach Ausprägung der Symptome folgende Differentialdiagnosen in Betracht gezogen werden:
- Aortenthrombose (häufig durch hypertrophe Kardiomyopathie ausgelöst)
- Kompartmentsyndrom (z.B. durch vorangegangenen Katzenbiss)
- Andere neurologische Genese einer Nachhandlähmung bei Katzen (Wirbelluxationsfraktur, Diskopathie, Schwanzabriss/ kaudosakrale Luxationsfraktur, ischämische Myelopathie, Myelitis, Neoplasien,…) à in der Regel sind hier keine deutlichen ischämischen Veränderungen der Hintergliedmaßen sichtbar
Welche Diagnostik sollte erfolgen?
Initial sollte eine umfassende allgemeine Untersuchung mit Erfassung der Vitalparameter (Herzfrequenz, Atemfrequenz, Schleimhautfarbe, KFZ und interne Körpertemperatur) erfolgen und dabei auch auf äußere Wunden geachtet werden. Die abdominale Palpation kann helfen, um gegebenenfalls eine Blasenruptur (Blase im kaudalen Abdomen nicht tastbar) oder weitere Hinweise auf innere Verletzungen (undulierendes Abdomen, starke Dolenz) zu erfassen. Daran anschließend sollte eine neurologische Untersuchung mit der Einschätzung des Lähmungsgrades (gehfähige bzw. nicht-gehfähige Paraparese oder Paraplegie der Hintergliedmaßen), der segmentalen Reflexe (normal/ vermindert/ ausgefallen) und bei paraplegischen Katzen des Tiefenschmerzempfinden (Druck mit einer Klemme auf das Periost der Zehen; normal/ ausgefallen) durchgeführt werden.
Es sollte ein Blutbild, eine Blutchemie inklusive der Bestimmung der Elektrolyte, Leber- und Nierenwerte und der Kreatinkinase (CK), sowie nach Möglichkeit eine Blutgasanalyse erfolgen.
Folgende Abweichung sind bei Kippfensterkatzen häufig feststellbar und müssen entsprechend in der Behandlung berücksichtigt werden:
Ein Übersichtsröntgen ist hilfreich bei der Abklärung knöcherner Verletzungen. Zudem kann eine Röntgenkontrastuntersuchung bei Verdacht einer Ruptur der harnableitenden Wege indiziert sein. Mit einer Ultraschalluntersuchung des Abdomens können weitere Verletzungen der Abdominalorgane abgeklärt werden.
Aufgrund der Einklemmung des Fettgewebes kann es nachfolgend zu Fettgewebsnekrosen kommen, diese entwickeln sich allerdings erst in den darauffolgenden Tagen, weswegen klinische Folgeuntersuchungen indiziert sind.
Wie sieht die Therapie aus?
In Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung ist in der Mehrzahl der Fälle eine stationäre Aufnahme mit intensivmedizinischer Überwachung indiziert. Auch in weniger dramatischen Fällen (noch gehfähige Paraparesen mit stabilem Allgemeinbefinden und nur geringgradigen Abweichungen in den Blutuntersuchungen), bei denen eine ambulante Versorgung versucht werden kann, sollten zeitnahe Folgeuntersuchungen und Blutkontrollen erfolgen.
In der überwiegenden Anzahl der Fälle muss zuerst der Kreislauf der Katze stabilisiert werden. Hierfür eignet sich eine Infusion mit einer Kalium-freien Infusionslösung wie Natriumchlorid-Lösung. CAVE: Vorsicht mit aggressiver Flüssigkeitstherapie bei hypothermen Katzen!
Zudem muss die Katze unbedingt analgetisch abgedeckt werden. Eine Gabe von NSAIDs ist initial aufgrund der Schocksymptomatik absolut kontraindiziert und kann zusätzlich schädigend auf Niere und Darm wirken! Zur analgetischen Abdeckung sind Opoide wie Morphin oder Buprenorphin geeignet.
Bei einer bestehenden Hyperkalämie kann, je nach Ausmaß der Hyperkalämie, eine zusätzliche Therapie notwendig werden. Eine milde Hyperkalämie (Richtlinie Kaliumgehalt < 6,0 mmol/l) kann vorerst unter kristalloider Infusion (0,9%ige NaCl-Lösung) beobachtet werden. Zur zusätzlichen Steigerung der renalen Ausscheidungen können auch Schleifendiuretika wie Furosemid angewendet werden. Besteht allerdings eine Hyperkalämie von über 6 mmol/l sollte eine Glukose-Bolusgabe (1-2 ml/kg 40%ige Glucoselösung, 1:1 verdünnt über 5 Minuten i.v.) erfolgen, damit Kalium mittels Glucose-Cotransport in die Zellen gelangt und damit der Blut-Kaliumspiegel gesenkt wird. Dieser Effekt kann durch eine Kombination des Glucose-Bolus mit einer zusätzlichen Gabe von kurzwirksamen Insulin noch gesteigert werden. Bei schweren Hyperkalämien mit über 8 mmol/l und Herzrhythmusstörungen oder Bradykardie empfiehlt sich die langsame und intravenöse Gabe von Calciumglukonat (0,5 – 1 ml/kg einer 10%igen Lösung 1:1 verdünnt über 10-15 Minuten über einen Perfusor). Dies wirkt schnell der Kaliumtoxizität am Herzen entgegen, verändert den Kaliumspiegel des Blutes aber nicht.
Bei schwerwiegender Azidose sollte gegebenenfalls ein Ausgleich der Azidose durch eine Natriumbikarbonat-Gabe erfolgen.
Liegt eine Hypothermie des Patienten vor, sollte dieser vorsichtig gewärmt (Wärmematten) und die Körpertemperatur engmaschig überwacht werden.
Je nach Schwere der Befunde müssen die Blutuntersuchungen (Kaliumwert, Nierenwerte, CK) mehrfach kontrolliert werden (initial mindestens alle 24 Stunden, bei starker Hyperkalämie gegebenenfalls öfter). Solange ein anhaltender Anstieg der CK ersichtlich ist, sollte die Katze stationär zur Infusionstherapie verbleiben, um die Elimination der toxischen Substanzen über die Niere zu forcieren und somit das Risiko einer dauerhaften Nierenschädigung zu minimieren.
Sobald der Patient kreislaufstabil ist, können erste physiotherapeutische Übungen durchgeführt werden, um den Abtransport der toxischen Substanzen zu fördern und die neuromuskuläre Regeneration zu stimulieren. Hierfür eignen sich zu Beginn sanfte Massagen der schmerzhaften, geschwollenen und verhärteten Muskulatur im kaudalen Körperbereich. Zudem sollten eine vorsichtige und sanfte passive Bewegung in der komfortablen (also nicht schmerzhaften) ROM (Range of Motion, Bewegungsradius der Gelenke) aller Gelenke beider Hintergliedmaßen durchgeführt werden. Dabei sollten die Gelenke gelenksnah gegriffen werden, um eine optimale Kontrolle der Bewegung zu ermöglichen. Anschließend können passive Radfahrbewegungen der Hintergliedmaßen als passive Bewegungsübungen durchgeführt werden, wobei mit einer Hand Kontakt zum Ballen der Pfoten gehalten werden sollte. Zusätzliche Nervenstimulationsübungen wie die Bürstung der Pfoten und Ballen mit einer Handwaschbürste oder Zahnbürste können ebenfalls hilfreich sein und auch der Flexorreflex, der in diesem Patienten vermindert bis ausgefallen ist, sollte zur Nervenstimulation mehrfach (3 bis 5-mal pro Übungseinheit) ausgelöst werden. Der Flexorreflex sollte sich mit dem Fortschreiten der Erholung des Patienten wieder normalisieren. Auch kurze assistierte Steh- und Gehübungen sind hilfreich. Diese Übungen sollten nach initialer Stabilisierung 2 bis 3-mal täglich durchgeführt werden. Da die vollständige Erholung der Patienten je nach Schwere der Symptomatik einige Wochen bis auch Monate dauern kann, ist es wichtig die Besitzer bei der Entlassung der Patienten in diese Übungen einzuweisen, damit die physiotherapeutischen Übungen Zuhause fortgesetzt werden. Zudem ist im Laufe der Genesung eine Behandlung durch einen spezialisierten Tierphysiotherapeut zu empfehlen, der entsprechend die Übungen an den aktuellen Zustand der Katze anpasst. Einige Katzen profitieren auch von der Nutzung eines Unterwasserlaufbandes in der Rekonvaleszenz, denn nicht alle Katzen sind so wasserscheu wie die landläufig Meinung ist.
Wie ist die Prognose der „Kippfensterkatzen“?
Laut Studien liegt die Mortalität bei 25 bis 35 %. Der Verlust des Tiefenschmerzes scheint kein negativ prognostischer Faktor zu sein. Die meisten Tiere erholen sich deutlich innerhalb der ersten 14 Tage nach dem Kompressionstrauma. Insgesamt kann eine vollständige Rekonvaleszenz aber auch bis zu einigen Monaten dauern.
Zum Weiterlesen:
[1] Gradner GM, Dogman-Rauberger L, Dupré G. 'Bottom-hung window' trauma in cats: neurological evaluation and outcome in 71 cats with bilateral hindlimb injury. Vet Rec Open. 2017 Aug 29;4(1):e000175. doi: 10.1136/vetreco-2016-000175.
[2] A. Fischer. Die Kippfensterkatze. Team.konkret 2015; 11(2): 10-14. doi: 10.1055/s-0035-1545986.
[3] Sigrist N, Mosing M. Lebensgefährliche Hyperkaliämie durch ischämische Muskelnekrose bei einer Katze. Tierärztliche Praxis 2006; 34 (K): 191–19 6. doi: 10.1055/s-0037-1622531
[4] Fischer I, Weiss R, Cizinauskas S, et al. Akute traumatische Nachhandlähmung bei 30 Katzen. Tierärztliche Praxis 2002;30:361–6.
[5] Griffiths IR, Duncan ID. Ischaemic neuromyopathy in cats. Vet Rec. 1979 Jun 9;104(23):518-22. doi: 10.1136/vr.104.23.518.