Leben am Limit – über die erhöhte mentale und körperliche Belastung von tiermedizinischem Fachpersonal
)
„Heute war wieder mal ein so richtig besch*** Tag!“ Wer kennt es nicht? Diese schlimmen Tage, an denen man alles hinwerfen, auswandern und irgendwo auf einer einsamen Insel Ziegen züchten oder Wein anbauen möchte. Zuerst musste ein treuer Patient leider eingeschläfert werden, da seine Zeit gekommen war. Die Besitzer waren freundlich und dankbar, aber natürlich auch zu tiefst traurig und man selbst hatte den Hund schon jahrelang begleitet und damit fiel dieser Schritt, auch wenn er notwendig war, auch dem Praxisteam nicht leicht. Anschließend artete es in Stress aus, da neben der vollen Sprechstunde zwei unangekündigte Notfälle dazwischen kamen. Ein Tierbesitzer wurde in seiner Not auch noch ausfallend, bezeichnete die anfallenden Kosten als Wucher und hinterfragte die Tierliebe des Praxisteams. Nicht nötig zu sagen, dass für das Team Überstunden anfielen und alle am Ende des langen Tages erschöpft und auch ein wenig demotiviert in den Feierabend gingen…
Diese Tagesschilderung ist kein Einzelfall, sondern in vielen Praxen Alltag. Kein Wunder also, dass tiermedizinisches Fachpersonal an Burnout leidet und die Suizidrate seit Jahren in der Tiermedizin hoch ist. Um hier frühzeitig Hilfe zu schaffen, wurde der Verein „VETHiLFE e.V.“ gegründet. Eine Telefonseelsorge für tiermedizinisches Fachpersonal. Um zu erfahren, wie es dazu kam, wie diese Telefonseelsorge angedacht ist und wie man bei diesem Projekt unterstützen kann, habe ich mich mit Dr. Nicole Lange, 1. Vorsitzende, und Dr. Maike de Rose, 2. Vorsitzende der „VETHiLFE e.V.“ über ihre Kummernummer und den Verein unterhalten.
Abbildung 1: Das Logo der „VETHiLFE e.V.“
SG: Ihr habt den Verein „VETHiLFE e.V.“ gegründet. Wie kam es zu diesem Schritt? Was waren eure Beweggründe? Was motoviert euch? Was ist eure Mission?
VETHiLFE e.V.: Die Herausforderungen in unserem Berufsstand sind vielfältig. Insbesondere die emotionalen und psychischen Belastungen wurden lange verschwiegen. Inzwischen ist es kein Tabuthema mehr. Studien zeigen die erhöhte Suizidgefahr, die Häufigkeiten von Burnout und Depression. Unsere Kummernummer sieht sich aber nicht nur als akute Anlaufstelle, sondern soll auch der Prävention dienen. Manchmal hilft es schon, wenn jemand zuhört. Insbesondere jemand, der aus demselben Umfeld kommt und keine langen Erklärungen braucht, um die Grundlagen zu verstehen. Jemandem wertungsfrei sagen zu können „Ich hatte einen schweren Tag“ ist ein guter Grund für einen Anruf, genauso wenn jemand schon sprichwörtlich „an der Klippe steht“.
Zusammengefunden haben wir uns tatsächlich durch eine Aussage auf Facebook, dass man, wie in England, eine Kummer-Hotline für Menschen aus der Tiermedizin bräuchte. Zwei der Damen in dem Posting brachten dann alle, die das gut fanden, in einer Facebookgruppe zusammen. Jede kannte noch jemanden anderen, die sich auch irgendwie mit dem Thema mentale Gesundheit in der Tiermedizin befasst hat und plötzlich wurde es konkret. 2024 haben wir dann den Verein gegründet und im Sommer geht es mit der Kummernummer los.
Abb.2: „Manchmal hilft es einfach, gehört zu werden.“ VETHiLFE e.V. (Bildrecht bei Julia von auroraimagination)
SG: Worin seht ihr die Ursachen für die erhöhte mentale Belastung von tiermedizinischem Fachpersonal?
VETHiLFE e.V.: Es ist ein klassisch multifaktorielles Geschehen. Die Entstehung einer erhöhten mentalen Belastung ist ebenso vielfältig, wie die Gründe, die dazu führen.
Beteiligt sein können, neben der individuellen und persönlichen Ausgangslage, ganz allgemein z.B. unregelmäßige Arbeitszeiten, ausbaufähige Teamsituationen, mangelnde Kommunikation innerhalb einer Einheit, stetig aggressiver werdende Kunden, ethisch-moralische Konfliktsituationen o.ä.
Abb. 3: „Dein Beruf verlangt viel von Dir. Deine Gefühle brauchen Raum.“ VETHiLFE e.V. (Bildrecht bei Julia von auroraimagination)
SG: Und wie läuft eure Telefonhilfe nun konkret ab? Wer darf anrufen und zu welchen Zeiten? Es gibt sicherlich Betroffene aus unseren Reihen, die sich denken: „Mein Problem ist so nichtig, damit kann ich nicht anrufen.“ Oder genau das Gegenteil: „Mein Problem ist so groß, was soll mir da ein Telefonanruf bringen?“ Was möchtet ihr diesen Menschen mit auf den Weg geben?
VETHiLFE e.V.: Es darf jede/r anrufen, der aus dem Bereich „Tiermedizinisches Fachpersonal“ kommt.
Wir freuen uns über jeden Anruf. Auch wenn das Problem klein erscheint, kann es für den/die Anrufende/n trotzdem eine Belastung sein oder werden. Je früher darüber gesprochen werden kann, umso besser kann er/sie damit umgehen. Hilfe zu suchen und anzunehmen ist ein wichtiger Schritt.
Unsere Nummer wird zum 01. Juni 2025 freigeschaltet. Anfangs werden wir täglich von 20 bis 22 Uhr erreichbar sein. Mit zunehmender Anzahl an Freiwilligen erhöhen wir nach und nach das Angebot.
Unser Ziel ist 24/7 erreichbar zu sein und zu einem späteren Zeitpunkt auch eine schriftliche Hilfe in Chat- oder Emailform anbieten zu können.
Abb. 4: Die Kummernummer der VETHiLFE e.V: „Es muss nicht immer okay sein. Wir sind für dich da.“ (Bildrecht bei Julia von auroraimagination)
SG: Habt ihr hier und jetzt für uns noch einige Tipps, wie wir als tiermedizinisches Fachpersonal besser mit belastenden Situationen umgehen können? Gibt es Empfehlungen für eine stabile mentale Gesundheit oder wie man besser auf sich selbst achten kann in all der Hektik, die ein Alltag im tiermedizinischen Bereich mit sich bringt?
VETHiLFE e.V.: Wie oben beschrieben bei den Gründen für die erhöhte Belastung, gibt es auch viele Möglichkeiten, um besser auf sich zu achten bzw. besser mit belastenden Situationen umzugehen. Für den einen ist es ein Hobby, der andere verbringt lieber Zeit mit Freunden oder Familien und jemand anderes findet im Sport oder durch etwas ganz anderes viel Kraft für den stressigen Alltag. Es gibt kein allgemeingültiges Rezept für alle. Jede/r sollte für sich selber herausfinden, was ihr/ihm gut tut. Ein empfehlenswertes Buch, mit vielen ganz praktischen Tipps, die dabei helfen können, ist z.B. „Bevor du vor die Hunde gehst: Mental gesund durch den Praxisalltag“ von Lisa-Marie Petersen.
SG: Ihr bildet eure freiwilligen HelferInnen in einem speziellen Ausbildungsprogramm zu „VetseelsorgerInnen“ weiter. Wie läuft diese Ausbildung ab?
VETHiLFE e.V.: Die Ausbildung erfolgt ausschließlich online. Unsere Vorbilder sind Vetlife in Großbritannien und die deutsche Telefonseelsorge. Unser Anliegen war von Anfang an eine fundierte Ausbildung von Profis. Daher werden unsere Freiwilligen durch die Kirchliche Telefonseelsorge Berlin-Brandenburg (KTS) ausgebildet. Zur Vorbereitung haben wir gemeinsam mit Vertretern von Vetlife und den Ausbildern der KTS Gespräche geführt, um von deren Erfahrungen aus den letzten 25 Jahren zu profitieren. Wir sind sehr glücklich, dass die Ausbilder der KTS sich auf das Abenteuer VETHiLFE mit uns eingelassen haben und diesen Weg mit uns gemeinsam gehen, auch in dem sie unsere Wünsche in die Ausbildung eingearbeitet haben.
SG: Welche Voraussetzungen muss man erfüllen, um bei euch als freiwillige/r TelefonseelsorgerIn in die nähere Auswahl zu kommen? Was wünscht ihr euch von den Freiwilligen? Wo können sich Interessierte bewerben?
VETHiLFE e.V.: Jedes Vereinsmitglied kann sich für die Ausbildung bewerben. Es gibt einen Infobrief sowie einen Fragebogen zur Ausbildung und der späteren ehrenamtlichen Tätigkeit an der Sorgen-Hotline auf unserer Homepage. Letzterer muss uns ausgefüllt zugemailt werden. Danach führen wir ein Auswahlgespräch, ob die Bewerberin/der Bewerber in Frage kommt. Sollte die aktuelle Ausbildungsrunde bereits voll besetzt sein, gibt es eine Warteliste für die nächste Runde.
SG: Als gemeinnütziger Verein seid ihr sicherlich auf Unterstützung angewiesen, um eure absolut wichtige Arbeit durchführen zu können. Wie kann man euch unterstützen, wenn man sich vielleicht nicht als TelefonseelsorgerIn geeignet sieht?
VETHiLFE e.V.: Das ist ganz einfach – man kann uns spenden und/oder Mitglied im Verein werden, beides ist eine große Hilfe. Infos dazu finden sich auf unserer Homepage. Außerdem kann man uns auf Instagram, Facebook und LinkedIn folgen und unsere Beiträge teilen, um uns und unsere Arbeit bekannt zu machen.
Abb. 5: „Für Dich da, wenn Du jemanden brauchst, der versteht.“ VETHiLFE e.V. (Bildrecht bei Julia von auroraimagination)
SG: Habt ihr noch ein motivierendes Schlusswort für alle?
VETHiLFE e.V.: Wir haben von Anfang an ganz viel Unterstützung aus den verschiedensten Bereichen bekommen, dafür möchten wir uns ganz herzlich bedanken. Ein großes Glück ist, dass der Zufall ein tolles Team motivierter Menschen zusammengebracht hat und auch, wenn es wahrlich nicht alles einfach ist. Dennoch wissen wir, dass unser Einsatz für die mentale Gesundheit in der Tiermedizin es wert ist und wir freuen uns über jeden, der auch an dem Thema dran ist, denn gemeinsam sind wir stark!
VETHiLFE e.V. = Antworten von Dr. Nicole Lange (1. Vorsitzende) und Dr. Maike de Rose (2. Vorsitzende)
Zum Weiterlesen:
[1] Schwerdtfeger K, Bahramsoltani M, Spangenberg L, Hallesleben N, Glaesmer H (2020): Depression, suicidal ideation and suicide risk in German veterinarians compared to the German general population. Veterinary Record; 1–9.
[2] Schwerdtfeger K, Bahramsoltani M, Glaesmer H (2016): Sind Tierärzte häufiger suizidgefährdet als andere Berufsgruppen. Deutsches Tierärzteblatt 7: 986.
[3] da Silva CR, Gomes AAD, Dos Santos-Doni TR, Antonelli AC, Vieira RFDC, da Silva ARS. Suicide in veterinary medicine: A literature review. Vet World. 2023 Jun;16(6):1266-1276. doi: 10.14202/vetworld.2023.1266-1276 .
[4] Glaesmer H, Bahramsoltani M, Schwerdtfeger K, Spangenberg L. Euthanasia Distress and Fearlessness About Death in German Veterinarians. Crisis. 2021 Jan;42(1):71-77. doi: 10.1027/0227-5910/a000689
[5] Nett R, Witte T, Holzbauer S, Elchos B, Campagnolo E, Musgrave KJ, Carter K, Kurkjian KM, Vanicek C, O’Leary DR , Pride K, Funk RH (2015): Prevalence of Risk Factors for Suicide Among Veterinarians –United States, 2014. Morbidity and mortality weekly report; 64: 131–2.